Svenja Liesch

Alles über(s) Leben

Wenn eine Autorin ein Buch schreibt, ist das immer eine emotionale Berg- und Talfahrt, doch die Geschichte von Svenja Liesch gleicht eher einer Achterbahnfahrt. Die junge Mutter und Autistin hat darum gekämpft, nach dem Tod ihres Ehemannes mit ihren drei Kindern leben zu dürfen. Sie stand diese Achterbahnfahrt für ihre Kinder durch. Und immer, wenn sie glaubte, etwas Luft zum Durchatmen zu haben, kam eine weitere Talfahrt: die nächste Inobhutnahme, der nächste Krankenhausaufenthalt, die nächste Gerichtsverhandlung. 

Am 16. Januar 2025 ließ uns die Neuautorin an dieser wilden Achterbahnfahrt teilhaben. Es war ihre erste Lesung, nachdem ihr Buch einen Tag vorher erschienen war. Im Sprechsaal in Berlin Mitte räumten die fleißigen, ehrenamtlichen Hände des Kulturkreises Pankow ausreichend Stühle in den Raum, denn ein Artikel in der Berliner Zeitung hatte für viel Aufmerksamkeit gesorgt. Auch einige Akteure aus Svenja Lieschs biografischem Roman waren gekommen: die Bestatterin ihres Ehemannes, die Hebamme ihres Jüngsten und einige Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aus dem Berliner Assistenzteam, das sie später auflösen musste, weil ihr die Mittel gestrichen wurden. 

Begleitet wurde Svenja Liesch von Assistenten aus ihrem heutigen Team, denn ohne Assistenz kann die junge Frau nicht leben. Ihre epileptischen Anfälle bringen sie oft auf die Intensivstation, aber auch ihr Autismus macht sie manchmal handlungsunfähig. In solchen Fällen braucht die junge Frau Hilfe für sich selbst und Assistenten, die sich liebevoll um ihre Kinder kümmern, deren Ängste abfangen und dafür sorgen, dass der ganz normale Alltag mit Kindergarten und Waldorfschule weitergeht. Bis Mama wieder einsatzfähig ist und übernehmen kann. 

Noch bevor die Lesung beginnt, ist deutliche Anspannung zu spüren: Der ehrenamtliche Techniker baut die Anlage auf und überprüft sorgfältig den Ton, ein Buchstand und die Bar werden eröffnet, die Beleuchtung wird immer wieder angepasst, damit die Autorin und auch das Publikum genügend Licht haben, aber auch nicht geblendet werden. Der Pianist Stephan Noel Lang stellt sein E-Piano auf und erste Besucher strömen herein. 

Währenddessen hat sich die Autorin in ein Hinterzimmer zurückgezogen. Sie sitzt dort in völliger Dunkelheit. Autismus bedeutet, dass Reize oft ungefiltert auf das Gehirn einströmen. Einfache Aktionen wie kurze Absprachen und Blickkontakt laufen bei neurotypischen Menschen meist automatisch und selbstverständlich ab. Menschen aus dem Autismus Spektrum müssen sie sich dagegen oft hart erarbeiten. Solche Kämpfe laufen unsichtbar ab, aber sie kosten jede Menge Kraft. 

Inzwischen ist es kurz nach 19 Uhr, der Pianist beginnt zu spielen. Wird die Autorin ihre erste Lesung durchstehen oder ist sie vielleicht mit der Menge an neuen Reizen überfordert? Marlene Müller vom Kulturkreis Pankow holt die zierliche, junge Frau aus der schützenden Dunkelheit des hinteren Raumes und begrüßt das Publikum mit herzlichen Worten. Auch die Buchbegleiterin Kerstin Rauch ist an ihrer Seite und übergibt das Wort an die Autorin. 

Svenja Liesch übernimmt das Mikrofon sehr souverän. Sie hat sich gewissenhaft auf die Lesung vorbereitet, ihr Buch ist voller gelber Lesezeichen. Sie wirft den Menschen im Publikum, die einige Abschnitte ihrer Achterbahnfahrt mit ihr gefahren sind, ein paar Luftküsse zu. Und bedankt sich dafür, dass diese Menschen für sie da waren. Im Abgrund und über den Berg hinaus, wie sie es nennt. 

Die Autorin betont bei der Begrüßung, dass sie das Buch geschrieben hat, um laut sein zu dürfen und um endlich gehört zu werden. Für sich, für ihre Familie und für alle Menschen mit Assistenzbedarf. Aber sie hat dieses Buch auch geschrieben, um fühlen zu können. Denn während der Achterbahnfahrt war keine Zeit für Gefühle. Da musste sie funktionieren, für sich und für ihre Kinder. Und dann liest sie. Mit beeindruckender Stimme, die sie immer wieder erhebt, wenn die Achterbahnfahrt 

dramatisch wird. Ihre Worte wirken ungeschönt, radikal ehrlich und erschütternd. Aber auch humorvoll und optimistisch, denn schließlich hat sie aus jedem Abgrund heraus gefunden. 

Das gefühlvolle Klavierspiel von Stephan Noel Lang unterstreicht diese Dramatik. Es gibt dem Publikum Raum, um das Gehörte wirken zu lassen, um zu fühlen und nachzudenken. Nicht selten wird nach Taschentüchern gekramt, um Tränen abzuwischen. Aber es wird auch laut und viel gelacht. Die junge Autorin trägt ihre Geschichte so fesselnd vor, als würde eine professionelle Schauspielerin lesen. Sie träumt davon, dass ihr Buch später einmal verfilmt wird. Und prompt meldet sich eine junge Frau aus dem Publikum, die Kontakte zu Videoleuten hat. 

Die Lesung dauert ungefähr 90 Minuten, aber die Zeit vergeht wie im Flug. Danach gibt es eine Pause, die viele nutzen, um sich ein Buch von der Autorin signieren zu lassen. Svenja Liesch schreibt mit ihrer zarten Hand jedem Menschen eine ganz persönliche Widmung ins Buch. Die Pause tut gut, um nach der Dramatik Luft zu schnappen und sich mit anderen Menschen auszutauschen. Die Mitarbeitenden des Kulturkreises Pankow lassen einen Hut herumgehen. Die Veranstaltung ist wie immer kostenlos, damit Kultur nicht zu einer Frage des Geldes wird. Aber auch der Raum und die Materialien müssen bezahlt werden. 

Die anschließende Fragerunde ist gut besucht, fast alle sind geblieben. Für viele Menschen ist das Modell der persönlichen Assistenz noch unbekannt. Svenja Liesch hat durch ihre persönliche Geschichte gezeigt, dass es auch für Menschen aus dem Autismus Spektrum möglich ist. Und nicht nur für Menschen mit körperlicher Behinderung, wie ihr das Amt zunächst Auskunft gab. Es werden auch ganz persönliche Fragen gestellt, die die Autorin ebenso offen und humorvoll beantwortet. Zum Abschluss bittet sie ihre Gäste, doch jetzt nach Hause zu gehen und etwas zu essen. Denn auch sie hat Hunger und Essen sei schließlich Liebe. 

Kerstin Rauch, Hebamme für Bücher. Lektorin des Buches

Wie fast immer, bin ich zu früh bei der Veranstaltung. Ich sehe, alle Stühle sind gerückt und die Protagonisten sind auch längst da. Diese kleine, zarte Person schwebt an mir vorbei – freundlicher, warmer Händedruck, wir begrüßen uns: „Du bist der Pianist?“ ein freundliches Lächeln, sie schaut mir in die Augen, sie schauen tief, sie begrüßt meine Seele… Ich verneinte, ebenfalls lächelnd „Aber Du könntest es sein, siehst so aus. Du kannst es noch werden.“ … und lächelt. Wir stellten erfreut – erstaunt fest, dass unsere, für immer bleibenden Energiepunkte nur zwei Hausnummern voneinander entfernt im Äther schwingen. Sie wird mir später etwas in ihr Buch schreiben, mit linker Hand, der Hand, die direkt vom Herzen geführt wird… Ich werde filmend ihrer Lesung folgen und die Tropfen ihrer Geschichte aufsaugen, verinnerlichen, manch dieser Tropfen verdunstet gleich wieder und mein Blick verschwimmt. Unfassbar die Vorstellung, dass diese Tropfen zu einem Meer gehören, das stürmisch, aufbrausend, voller gefährlicher Strudel ist – mal Leben spendend, mal Leben nehmend… Die Oberfläche mal seicht und friedlich erscheint und diese unerforschte Vielfalt an Leben trügerisch bedeckt und die Sonne sich dort glücklich lächelnd spiegelt, vergessend welch Tsunamis sie schon sah… aber es wird niemals von Eis bedeckt sein, zu warm ist es…

Ich werde noch etwas mit den Zehen am Ufer im Wasser spielen, innerlich Kraft sammeln, bevor ich es wage in dieses Meer einzutauchen.

Dieses Buch – für mich schon jetzt der Bestseller überhaupt, hundertprozent biografisch, authentisch, fotografisch. Es steht allein in der Welt des autistischen Spektrums, es steht allein in der Welt der Bücher. Eine Geschichte die verändern, die helfen wird – die vielen Betroffenen Kraft gibt und geben wird.

Svenja Liesch, Autorin, Schauspielerin, Kommunikationstrainerin, Musikerin – Svenja Liesch vor allem aber eine liebende „Mutter, eine Beschützerin, eine Lehrerin, eine Freundin, die immer an deiner Seite ist, durch Lachen und Tränen, durch Tag und durch Nacht…“ (Song „I Am A Mother„-Svenja Liesch)

Der komplette Mitschnitt dieser Veranstaltung des Kulturkreises Pankow, ist in Vorbereitung.

Tilo S., regelmäßiger Besucher unserer Veranstaltungen

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