Lesung aus der Anthologie
„Damit der Mensch ein Mensch ist“
In der Veranstaltung am 2. Oktober im Sprechsaal las Hauke Ritz aus seinem Essay „Der Entwicklungspfad der europäischen Kultur in Beziehung zum Problem von Gut und Böse“ und erörterte wesentliche Aussagen zu einem sehr verdichteten und spannenden Vortrag.
In dem Essay befasst er sich mit der Krise Westeuropas, das sich von seinem kulturellen Erbe – Religion, Philosophie der Aufklärung, humanistisches Bildungsideal und Kunst – abgewendet hat, um als starke Macht auf dem Weltmarkt mitzuspielen. Europa hätte seinen Sinn für Kunst und Schönheit verloren. Dabei sieht Hauke Ritz in den „Thesen zum Begriff der Geschichte“, in denen sich Walter Benjamin darüber wundert, dass noch möglich ist, was in Europa geschieht, eine Ähnlichkeit zu heute. Nur hätten sich die „Methoden geopolitischer Machtentfaltung längst derart verfeinert…, dass sie mittlerweile in die Sphäre der Nachrichten, der Kultur, der unterschwelligen Wahrnehmung eingedrungen sind, was wiederum bewirkt, dass sich der von Benjamin befürchtete Traditionsbruch heute einer Vielzahl indirekter Machttechniken bedient, wodurch er wie eine natürliche Entwicklung aussieht, obgleich er nicht minder entschieden durchgesetzt wird als zu Benjamins Zeiten.“
Wie auch Benjamin sieht Hauke Ritz dennoch eine „schwache messianische Kraft“, eine „Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern und unserem“, die auf Erlösung verweise. Neben der Geschichtsperspektive der Sieger, gäbe es mit „dem Echo historischer Stimmen, auch ein wahres Bild der Vergangenheit“.
„Das also der Geschichtsschreiber, Philosoph oder Autor, sofern er nur die Geschichte der Sieger gegen den Strich bürstet, der rettenden Inhalte in einer Vergangenheit habhaft werden könne.“ Hauke Ritz setzt unsere Gegenwart in Beziehung zu den 1930er und 40er-Jahren, weil, und diesmal unter der Führung der USA, Westeuropa und Deutschland wieder kriegerisch nach Osten streben.
Weiterhin erörtert er Benjamins Interpretation des Faschismus, den dieser für die Rückkehr der polytheistischen Religion hielt, und deshalb müsse auch der Widerstand zumindest indirekt theologisch sein. So sah Benjamin den 2. Weltkrieg als versteckten Religionskrieg zwischen der modernen mythischen Religion(Faschismus) und einer modernen christlich-monotheistischen Religion(Sozialismus). Während im Faschismus eine alte mythologische, schicksalsgläubige, vorchristliche Bewusstseinslage zurückkehrte, sah Benjamin im Sozialismus die zivilisatorischen Errungenschaften des Monotheismus erfüllt. Der Sozialismus sei“ eine Säkularisierung, also weltliche Übersetzung des Christentums, dessen soziale Werteordnung dem Christentum entspricht. “So führte die christliche Botschaft von der Menschwerdung Gottes zum Anthropozentrismus und damit Humanismus der europäischen Kultur.“
Die Gleichheit vor Gott wurde zur Gleichheit vor dem Gesetz, und die christliche Soziallehre wurde von der Arbeiterbewegung mit veränderten Worten aufgegriffen. Die christliche Heilerwartung verwandelte sich in die „Revolutionserwartung der Arbeiterbewegung“.
„Wenn der Gott menschlich geworden war, dann war auch der Mensch vergöttlicht.“ Ihm kam eine Würde zu, die die Grundlage für die später formulierten Menschenrechte bildete.
Ist Europa der Moderne für Hauke Ritz vom Christentum geprägt, so sieht er in der Postmoderne eine negative kulturelle Entwicklung, die sich mit dem Bezug auf Nietzsche vom Christentum abwendet und damit vom christlich geprägten Menschenbild in Kunst, Kultur und Philosophie.
Die Postmoderne misstraue dem Menschenbild des Humanismus und der Aufklärung. Der Mensch würde zunehmend als „Gefährder und Verschmutzer der Natur, oder noch drastischer: als Krankheitskeim des Planeten“ gesehen und negative Zuschreibungen wie mehr Gewaltpotential sowie sein struktureller Rassismus und Sexismus würden betont. Sexualität rücke in den Mittelpunkt wie auch die Identität sexueller Minderheiten. Entsprechend käme es „zu einer extremen Erweiterung und damit der Auflösung der Institution Ehe“ und damit auch zu einem „Bruch mit der aus dem Christentum hervorgegangenen bürgerlichen Kultur Europas.“ Diese „Uminterpretation“ ermöglichte „auch eine Wiederanknüpfung an die polytheistische Geisteslage längst vergangener Zeiten.“
Für Hauke Ritz wäre es ein rettender Gedanke, die Nähe von Faschismus und Postmoderne als politische Religion, die „ihre Legitimation und politische Macht auf Ahnen, Abstammung und Blutsbande ableite“, zu erkennen.






